Inhaltsverzeichnis
- Woher stammt der Begriff Chaos?
- Zweifel an mechanistischen Welterklärungen
- Wachstumsverhalten von Tierpopulationen
- Unordnung im Universum
- Chaos oder Ordnung?
Chaos oder Ordnung? (© thodonal - stock.adobe.com)
Was Chaos ist, das glauben wir alle zu wissen. Der Begriff ist alltäglich, und wir verbinden damit die Vorstellung von einer allgemeinen Unordnung, einer wirren Masse oder einem völlig unübersichtlichen Prozess wie im Verkehrs-Chaos.
Woher stammt der Begriff Chaos?
Der Begriff Chaos wurde aus dem Griechischen übernommen, wo er den ungeordneten Urstoff beschrieb, aus dem nach den griechischen Schöpfungssagen die Welt hervorgegangen ist. Bis heute kennzeichnen wir in der Umgangssprache hiermit den Zustand eines Systems.
Demgegenüber befasst sich die Chaostheorie nicht mit dem Zustand, sondern mit dem zeitlichen Verhalten, also der Dynamik eines Systems.
Menschen haben immer versucht, im Dschungel der von ihnen beobachteten und erlebten Phänomene so etwas wie eine Ordnung, eine ordnende Macht zu finden. Dieses Bemühen zieht sich durch alle Zeiten und ist ein wesentliches Element in allen Kulturen. Wir verdanken ihm eine irritierende Fülle von religiösen und weltanschaulichen Vorstellungen.
Die Religionsgeschichte kennt Gottheiten in den unterschiedlichsten Formen. So verschieden die Gottesauffassungen auch sind, sie können alle als Antworten der Menschen auf die Unberechenbarkeit und Komplexität der Welt und des Lebens gesehen werden. Die Menschen, die an sie glauben, weisen ihnen eine ordnende Macht zu und finden dadurch eine gewisse Orientierung in ihrem Leben.
Mit der Einführung des Experiments in die Naturwissenschaften wuchs der Glaube an eine der Natur innewohnende Ordnung, die sich in den Naturgesetzen offenbart. Es entstanden Vorstellungen von einer mechanistischen Weltorganisation, von einer Natur, die gesetzmäßig abläuft wie ein Uhrwerk. Dies verlangte eine andere Gottesvorstellung, eine religiöse Begründung für das Wirken Gottes in den Naturgesetzen. Nach der Überzeugung von Isaac Newton (1643–1727) hat Gott selbst die Gesetze für den Ablauf der regulären und geordneten Vorgänge des Weltorganismus geschaffen. (Bialas 2004)
Zweifel an mechanistischen Welterklärungen
Von religiös motivierter Kritik am mechanistischen Weltverständnis abgesehen, gab es auch andere kritische Köpfe, denen aufgrund bestimmter Beobachtungen Zweifel an den einfachen mechanistischen Welterklärungen kamen. Als eine besonders interessante Persönlichkeit ist in diesem Zusammenhang der Göttinger Mathematiker und Physiker Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799) zu nennen, der vor allem als „Aphoristiker“ sehr bekannt ist. Er war nicht nur ein geistreicher und scharfsinniger Beobachter seiner Zeit und seiner Zeitgenossen, sondern ist – im Rückblick betrachtet – auch als ein Vorläufer der Chaostheorie zu sehen. Er hat vieles von der Komplexität der Welt erkannt und drei wichtige Grundgedanken vorweggenommen, die heute in der Theorie komplexer Systeme eine Rolle spielen. Bekanntlich notierte er seine Gedanken und Einfälle in Tagebüchern, die er selbst „Sudelbücher“ nannte, und die nach seinem Tod veröffentlicht wurden. Dort steht auch – ganz im Gegensatz zu den streng deterministischen Weltvorstellungen seiner Zeit – der Satz: „Die Realität ist vielleicht das reinste Chaos.“
Bei Versuchen mit Elektrizität entdeckte er 1777 im Staub auf der Isolatorplatte des Elektrophors ein sternförmiges Muster. Solche Muster werden heute als „Lichtenbergsche Figuren“ bezeichnet. Eine Lichtenberg-Figur ist die sichtbar gemachte Form der Büschelentladung, einer stromschwachen Gasentladung bei Atmosphärendruck. Dabei beobachtete Lichtenberg, dass sich große und kleine Formen sehr ähneln und stellte fest: „Alles ist sich gleich, ein jeder Teil repräsentiert das Ganze“. Dies ist nichts anderes als der Grundgedanke der „Selbstähnlichkeit“ in der Chaostheorie.
Das Studium von Blitzen veranlasste ihn zu der Frage: „Ist es nicht höchst sonderbar, daß der Blitz, der sich doch mit einer solchen Schnelligkeit bewegt, so selten oder niemals in einer geraden Linie geht und sich so leicht lenken läßt?“ Dies führt auf den Grundgedanken der „Fraktalen Geometrie“, die Beobachtung, dass die Natur nicht in mathematischen Formen wie Geraden, Ebenen, Kegeln usw. strukturiert ist, sondern „gebrochenen“ (fraktalen) Dimensionen.
Lichtenberg wusste aber offenbar auch von der Unberechenbarkeit der Dinge: „Den Wetterweisen muß der Mut nicht wenig bei der Betrachtung sinken, daß ein Funke eine ganze Stadt in Asche legen kann, unsere Witterungs-Begebenheiten können ja öfters eben so entstehen, wer will das alles schätzen.“ (nach Peitgen et al. 1998, S. IX) Damit hat er den heute so populären „Schmetterlingseffekt“ vorweggenommen.
Der französische Mathematiker und Astronom Henri Poincaré (1854–1912) untersuchte 1899 die langfristige Stabilität von Planetenbahnen und gewann einen Preis mit seiner Arbeit „Über das Dreikörper-Problem und die Gleichungen der Dynamik“.
Poincaré zeigte darin, dass winzige Störungen zu drastischen Veränderungen führen können, wenn ihre Wirkungen durch (positive) Rückkopplungsprozesse stark anwachsen. Selbst ein vollständig bestimmtes System wie die umlaufenden Planeten kann dann ungewisse Ergebnisse hervorbringen. Diese Erkenntnisse Poincarés fanden aber keine weitere Beachtung, so dass er im Rückblick ein einzelner Vorläufer der Chaostheorie bleibt.
Es dauerte mehrere Jahrzehnte, bis sich eine neue Sicht der Dinge entwickelte, ausgelöst durch eine zufällige Beobachtung. Der amerikanische Meteorologe Edward N. Lorenz (geb. 1917) befasste sich 1960 mit meteorologischen Modellrechnungen. Dabei entdeckte er zu seiner Überraschung eine sehr starke Abhängigkeit der Ergebnisse von winzigen Variationen der Anfangsbedingungen. Der später populär gewordene Schmetterlingseffekt kam erst einige Jahre später ins Spiel, und zwar durch einen Vortrag, den Lorenz in Washington D.C. gehalten hat. Dafür hatte er als Titel gewählt: „Predictability: Does the Flap of a Butterfly’s Wings in Brazil set off a Tornado in Texas?“ (Vorhersagbarkeit – Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen?). Diese Frage machte die Runde, und seither gilt der Flügelschlag eines Schmetterlings als der Inbegriff der Instabilität, also der Nichtvorhersagbarkeit eines Systems. Als Schmetterlingseffekt wird seitdem die hochempfindliche Abhängigkeit eines Systems von den Anfangsbedingungen veranschaulicht. Dahinter steht die Vorstellung, dass die geringfügige Luftbewegung, die der Flügelschlag eines Schmetterlings verursacht, zu einer Wetterentwicklung führen kann, die sich völlig von der unterscheidet, die sich ohne diesen Luftzug ergeben hätte.
Das Überraschende daran ist eigentlich, dass dies so überrascht hat. Denn es ist doch eine alte Volksweisheit, dass kleine Ursachen zu großen Wirkungen führen können. Wir alle kennen zahllose Beispiele dieser Art, schwere Unfälle, die von winzigen Defekten ausgelöst wurden, oder von einer weggeworfenen Zigarette verursachte Brandkatastrophen. Gleichwohl ist unser Lebensgefühl ein ganz anderes. Wir alle haben oft genug bunte, harmlose Schmetterlinge beobachtet und sträuben uns irgendwie gegen die Vorstellung, dass ein solches Tierchen mit seinem Flügelschlag einen gewaltigen Tornado verursachen kann. Wir unterliegen da wohl unbewusst einer ganz anderen Erfahrung, nämlich der, dass das Wettergeschehen einer ungeheueren Vielfalt von Einflussfaktoren unterliegt, die in unüberschaubarer Weise zusammenwirken, so dass eine winzige Einzelwirkung wie der Flügelschlag eines Schmetterlings durch viele andere Kräfte sozusagen „abgepuffert“ wird.
Wachstumsverhalten von Tierpopulationen
Ein ganz anderer Aspekt der Chaostheorie lässt sich am Wachstumsverhalten von Tierpopulationen aufzeigen. Das Wachstum einer Population ist eine komplexe Sache, die von einfachsten Ordnungen bis zum Chaos reicht. Dies hat nicht nur das Interesse von Biologen geweckt, sondern auch das von Mathematikern. Einer der Pioniere auf diesem Gebiet war der belgische Mathematiker und Soziologe Pierre François Verhulst (1804–1849). Er studierte die Entwicklung von Tierpopulationen unter verschiedenen Bedingungen und entwickelte eine Gleichung für das Wachstumsverhalten einer Population bei eingeschränkten Ressourcen, z.B. wenn Kaninchen isoliert auf einer Insel leben. Die sich daraus ergebenden Konsequenzen sind in Abb. 1 schematisch dargestellt.
Zunächst können sich die Kaninchen vermehren, bis die Insel mit Kaninchen „gesättigt“ ist und das Nahrungsangebot für die Nachkommen gerade ausreicht. Unter diesen Bedingungen pendelt sich die Population nach einigen Generationen auf einen stabilen Wert ein (Abb. 1 links oben).
Wenn sich nun die Kaninchen zu wohl fühlen und sich stärker vermehren, dann entziehen sie sich selbst ihre eigenen Ressourcen. Sie fressen zu viel, die Nahrung wird knapp und durch die unvermeidlich auftretende Hungersnot reduziert sich ihre Zahl drastisch. Dann kann sich aber das Nahrungsangebot regenerieren, es wächst wieder mehr Nahrung nach und die Population kann wieder wachsen. Es entwickelt sich durch diesen periodisch rückgekoppelten Prozess ein zyklisches Verhalten.
Merkwürdigerweise wird dieser Prozess bei einer immer mehr anwachsenden Zahl von Nachkommen plötzlich unregelmäßig, die Population schwankt von Generation zu Generation in nicht voraussagbarer Folge (rechts unten). Das zunächst stabile, dann zyklische Verhalten geht in ein chaotisches Verhalten über. Und dieser gesamte Prozess kann in einer einzigen Formel beschrieben werden. Sie ist als die „Logistische Gleichung“ bekannt und wurde ursprünglich von Verhulst als demographisches Modell eingeführt (vgl. Peitgen et al. 1998). Die Populationsforschung hat hundert Jahre damit gerechnet, ohne dass der darin enthaltene Übergang in das chaotische Verhalten erkannt worden wäre.
Ein mathematisches Modell für dieses merkwürdige Verhalten entwickelte 1976 der Physiker Mitchell Feigenbaum (geb. 1941) am Los Alamos National Laboratory. Es führte zu dem nach ihm benannten „Feigenbaum-Diagramm“ (Abb. 2). In Abhängigkeit von der Reproduktionsrate ist das System stabil oder wird zyklisch. Es tritt im Diagramm eine Gabelung (Bifurkation) auf, der weitere folgen. Wächst die Reproduktionsrate weiter an, so geht das System in einen chaotischen Zustand über, die Entwicklung der Population wird völlig unregelmäßig.
Als Attraktor bezeichnet man jene Figur in einem Phasenraum, die die Zustände anzeigt, auf die sich ein System im Laufe der Zeit zubewegen kann. Einen Phasenraum verwenden Wissenschaftler oft, um das Verhalten eines Systems darzustellen und zu analysieren. Was diese zunächst abstrakt klingende Erklärung bedeutet, kann an einem Beispiel aufgezeigt werden.
Wenn man ein schwingendes Pendel betrachtet, so kann man daran verschiedene Phasen beobachten. Während das Pendel nach links schwingt (A), wird es sich verlangsamen und im höchsten Punkt B für einen kurzen Moment zur Ruhe kommen, bevor es zurückschwingt (C) und dabei immer schneller wird. Am tiefsten Punkt D erreicht es die höchste Geschwindigkeit und wird im Aufsteigen (E) wieder langsamer. Dann erreicht es wieder einen höchsten Punkt F, wo es kurz zur Ruhe kommt, und alles wiederholt sich, wobei das Pendel im Punkt G wieder seine höchste Geschwindigkeit in der Gegenrichtung erreicht.
Nun kann man den Verlauf dieses periodischen Vorgangs in ein Diagramm eintragen, dessen eine Achse den Ort des Pendels angibt und dessen zweite Achse den Impuls (das Produkt aus Masse und Geschwindigkeit) darstellt. Man erhält dann für die einzelnen Phasen die im Diagramm links unten skizzierten Positionen der Punkte A bis G. Der ganze Schwingungsvorgang bildet in dem durch die Achsen Ort und Impuls aufgespannten Phasenraum eine geschlossene (elliptische) Figur.
Die Schwingung eines Pendels wird jedoch gedämpft, zumindest durch den Luftwiderstand. Die Folge davon ist, dass die Ausschläge kleiner werden und das Pendel schließlich mit dem Impuls und der Auslenkung Null zur Ruhe kommt. Weil dieser Punkt die Bahn im Phasenraum anzuziehen scheint, nennt man ihn „Anziehungspunkt“ oder „Attraktor“.
Ein Attraktor ist also allgemein ein Gebiet in einem Phasenraum, auf das sich ein System hinbewegt. In dem skizzierten einfachen Fall ist der Attraktor immer ein Punkt. In anderen Fällen können sich Systeme von unterschiedlichen Anfangsbedingungen aus auf verschiedene Attraktoren hin entwickeln. Das kann ein „Grenzzyklus“ oder ein „Ring-Attraktor“ sein.
Nun kann aber auch Seltsames passieren, und darauf war E. Lorenz gestoßen. Wenn er in seinem System Winzigkeiten änderte, bekam er nach kurzer Zeit ein ganz anderes Wetter. Mikroskopische Störungen wurden dabei durch Rückkopplungen verstärkt, manchmal langsam, manchmal rasend schnell, und dies führte zu nicht vorhersagbaren makroskopischen Wirkungen. Auch er hat sein Wetter im Phasenraum dargestellt. Er kam aber nicht zu einem der schon bekannten Attraktoren, sondern zu einem merkwürdigen Gebilde, das wie ein Paar Ohren aussieht und nach ihm „Lorenz-Attraktor“ genannt wird. Zusammen mit anderen Attraktoren, die chaotische Systeme beschreiben, nennt man ihn auch „Seltsamen Attraktor“ (Abb. 3). Dieser ist nicht mit Stabilität verbunden, beschreibt chaotische Systeme und reagiert äußerst empfindlich auf Störungen.
Der seltsame Attraktor macht seinem Namen alle Ehre: Er besteht aus einer unendlich langen Linie, die sich auch auf begrenztem Raum nie überkreuzt. Würde sie sich überschneiden, befände sich das System zu verschiedenen Zeitpunkten in gleichem Zustand – alle Werte, ob Temperatur, Druck oder was auch immer, wären identisch. Weil sich das System jedoch deterministisch verändert, hätte es zu diesen Zeiten aber auch die gleiche Zukunft, das heißt, es verhielte sich dann periodisch – so wie ein Pendel.
Unordnung im Universum
Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik besagt, dass die Unordnung im Universum ständig zunehmen muss. Dies gilt freilich nur für das ganze Weltall oder ein irgendwie geschlossenes System. Dies gilt aber nicht in jedem Untersystem. Deshalb können wir allenthalben die Entstehung von Ordnung beobachten, vorausgesetzt dass einem betrachteten Untersystem Energie zugeführt wird. Das Zusammenwirken von Teilen eines Gesamtsystems führt dann „von selbst“ und ohne äußeres Zutun zu Mustern und Strukturen, die neuen Ordnungsprinzipien unterliegen. Beispiele für diese Selbstorganisation sind etwa Konvektionen bei der Erwärmung von Flüssigkeiten, die Bildung von Dünenformen oder Flussnetzen, und nicht zuletzt auch die Entstehung des Lebens. Die Sandkörner in einer Düne etwa, denen der Wind Energie zuführt, verhalten sich als ob sie sich abgesprochen hätten. Sie bilden Formen und Strukturen, die man sozusagen vom einzelnen Sandkorn gar nicht erwarten kann. Ähnliches lässt sich auch in vielen anderen Fällen beobachten, aus der chaotisch erscheinenden Unordnung erwächst Systematik und Ordnung, vielfach entstehen sogar Gebilde, die auf uns als Betrachter einen eigenartigen ästhetischen Reiz ausüben.
In der Literatur werden solche Vorgänge mit dem Begriff „Selbstorganisation“ (oft auch „Selbstordnung“) beschrieben. Es entwickeln sich dabei also Eigenschaften in einem komplexen System, die dessen Einzelteile nicht besitzen und die erst durch das Zusammenwirken der Einzelteile entstehen. Man bezeichnet dies auch als Emergenz.
Der amerikanische Mathematiker Benoit B. Mandelbrot (geb. 1924) bereicherte die wissenschaftliche Szene durch eine neue Sicht der in der Natur vorkommenden geometrischen Formen. Ihn beschäftigte die Beobachtung, dass es natürliche Formen gibt, die – ganz gleich in welchem Maßstab man sie betrachtet – immer ähnlich aussehen; ein Teil eines Abschnitts sieht immer dem ganzen Abschnitt ähnlich. Beispiele dafür findet man allenthalben: Pflanzenblätter, Eisblumen, Bäume, Dünen, Flussnetze usw. Solche Objekte zeigen in unterschiedlichen Vergrößerungen immer wieder gleiche bzw. sehr ähnliche Muster. Da sie „sich selbst ähnlich“ sind, wurde für diese Eigenschaft der Begriff „Selbstähnlichkeit“ geprägt.
Solche natürlich erscheinenden Formen sind auch aus der Geometrie bekannt. Der schwedische Mathematiker Helge von Koch (1870–1924) führte 1904 die nach ihm benannte Koch-Kurve ein. Ihre Konstruktion geht von einer Geraden aus und führt nach einer bestimmten Regel zu immer feineren Formen (Abb. 4 links). Wenn man dieses Prinzip über den Seiten eines Dreiecks anwendet, so entsteht die „Kochsche Schneeflocke“, die sehr an reale Schneeflocken erinnert (Abb. 4 rechts).
Mandelbrot entwickelte nun zur Beschreibung solcher Eigenschaften die „Fraktale Geometrie“. Im Vorwort seines Buches „Die fraktale Geometrie der Natur“ schreibt er:
„Wolken sind keine Kugeln, Berge keine Kegel, Küstenlinien keine Kreise. Die Rinde ist nicht glatt – und auch der Blitz bahnt sich seinen Weg nicht gerade ... Die Existenz solcher Formen fordert uns zum Studium dessen heraus, was Euklid als formlos beiseite lässt, führt uns zur Morphologie des Amorphen. Bisher sind die Mathematiker jedoch dieser Herausforderung ausgewichen. Durch die Entwicklung von Theorien, die keine Beziehung mehr zu sichtbaren Dingen aufweisen, haben sie sich von der Natur entfernt. Als Antwort darauf werden wir eine neue Geometrie der Natur entwickeln und ihren Nutzen auf verschiedenen Gebieten nachweisen. Diese neue Geometrie beschreibt viele der unregelmäßigen und zersplitterten Formen um uns herum – und zwar mit einer Familie von Figuren, die wir Fraktale nennen werden.“
Fraktale nennt man Figuren, deren Dimension nicht ganzzahlig ist. Zu ihrer Veranschaulichung kann folgende Überlegung führen: Ein Würfel ist gekennzeichnet durch drei zueinander senkrecht stehende Geraden und weist glatte Oberflächen auf. Er hat drei Dimensionen, nämlich Länge, Breite und Höhe, die er vollständig ausfüllt. Ein Berg hingegen, der sich ebenso ins Räumliche erstreckt, ist an der Oberfläche nicht glatt, sondern gebrochen, und füllt einen dreidimensionalen, würfelförmigen Raum nicht vollständig aus. Der Berg ist daher mit einer Dimension zu beschreiben, die nicht ganzzahlig, sondern gebrochen (fraktal) ausfällt. Die Dimension eines Berges muss danach zwischen zwei (also einer Ebene) und drei (also einem vollständigen Würfel) liegen. In ähnlicher Weise, so argumentierte Mandelbrot, ist eine Küstenlinie nicht eindimensional (also gerade) und nicht zweidimensional (also flächig). Die Dimension einer Küstenlinie muss folglich zwischen eins und zwei liegen. Mandelbrot nannte solche Objekte gebrochener Dimension „Fraktale“.
Der Kartograph kennt so etwas, er muss zwangsläufig immer solche Vereinfachungen – so genannte Generalisierungen – durchführen, wenn er eine topographische Karte zeichnet. Kleine Buchten, Halbinseln usw. müssen weggelassen und der Küstenverlauf muss geglättet werden, wenn man zu kleineren Maßstäben übergeht. Ein und dieselbe Küstenlinie ist deshalb in Karten verschiedener Maßstäbe nicht gleich lang.
Aber es kommt noch schlimmer: Die Linie, um die es hier geht, gibt es streng genommen gar nicht. Die Küstenlinie ist nur eine vereinfachende Abstraktion, eine der vielen Modellvorstellungen, die wir als Menschen unbewusst entwickeln, um unsere Umwelt überhaupt strukturiert wahrnehmen zu können. Je genauer man hinsieht, desto mehr stellt man fest, dass es um uns herum keine gerade Türkante und keine ebene Wand gibt – und eben auch keine Küstenlinie. Diese ist eine Fiktion, die sich im Detail in unendlich komplizierte Formen von Steinen, Sandkörnern und Schlick auflöst, und sich mit jeder Welle verändert. Die fraktale Geometrie der Küstenlinie führt uns ins Chaotische, und – wie seltsam – wir kommen mit diesem Chaos bestens zu recht.
Dann gibt es noch einen ganz anderen Aspekt: Chaos und Fraktale – das kann auch Spaß machen. Sehr bekannt geworden ist die „Mandelbrot-Menge“, populär auch unter dem Namen „Apfelmännchen“ (Abb. 5). Dies ist die graphische Wiedergabe der Ergebnisse von fortgesetzten Iterationsrechnungen mit komplexen Zahlen. (Vgl. Peitgen et al. 1998) Dabei hat Mandelbrot die Arbeiten des französischen Mathematikers Gaston Julia (1893–1978) aufgegriffen, der seine mathematischen Erkenntnisse noch nicht durch computer-graphische Methoden veranschaulichen konnte.
In Julia-Mengen bzw. in der Mandelbrot-Menge drückt sich die Struktur im Chaos bildlich in komplexen Formen aus. Es sind Fraktale, die im Detail immer wieder gleichartige Muster zeigen. Ihre bildhafte Wirkung kann durch geschickte Farbgebung enorm gesteigert werden.
Chaos oder Ordnung?
Was gilt denn nun eigentlich, Chaos oder Ordnung? Es scheint fast so, als könne man sich auf gar nichts mehr verlassen. Offenbar ist das Chaos nicht so chaotisch, wie man es gemeinhin unterstellt. Es enthält bzw. entwickelt Ordnung! Und die Erkenntnisse der Chaostheorie machen uns deutlich, dass die Ordnung weniger ordentlich ist als man erwartet, denn sie kann in Chaos übergehen!
Das Chaos, von dem hier die Rede geht, ist freilich nicht der völlig ungeordnete Urstoff, sondern das „Deterministische Chaos“ Das Verhalten von in diesem Sinne chaotischen Systemen ist zwar vorherbestimmt (determiniert), aber es hängt in extremer Weise von den Anfangsbedingungen ab. Da sich diese nicht genau bestimmen lassen, sind viele Phänomene trotz strengem naturgesetzlichem Determinismus prinzipiell nicht prognostizierbar.
Gänzlich unberechenbar, also mathematisch chaotisch, sind hochkomplexe Systeme wie Weltmärkte, Börsenkurse, das Wetter oder gar die menschliche Gesellschaft. Man kann das Verhalten dieser Riesensysteme bestenfalls kurzfristig vorhersagen, aber nie so exakt, wie man es haben möchte. Genau das meint die Wissenschaft, wenn sie vom Chaos spricht. Es ist also nicht die schlichte Unordnung, sondern die sichtbare Wirkung kleinster und unbestimmbarer Faktoren.
„Leben ist auf der einen Seite ein dynamisches Entstehen von Ordnung, das immer vom Zerfall von Ordnung, vom Übergang ins Chaos begleitet wird.“ (Cramer 1989 S. 17) Es sieht demnach so aus, als ob Chaos und Ordnung zwei Seiten der Natur darstellen. Aus dem Chaos können sich geordnete Strukturen entwickeln und die Ordnung kann ins (deterministische!) Chaos übergehen. Chaos und Ordnung sind mehr als Geschwister – sie gehören zusammen wie siamesische Zwillinge.
In unserem täglichen Leben und in vielen wissenschaftlichen Arbeiten verlassen wir uns auf die naturgesetzliche Ordnung, auf kausale Zusammenhänge. Wir bauen darauf, dass die Welt in linearen Systemen verläuft, dass gleiche Ursachen zu gleichen Wirkungen und ähnliche Ursachen zu ähnlichen Wirkungen führen.
Auch die Chaostheorie bleibt dabei, dass gleiche Ursachen zu gleichen Wirkungen führen. Sie lehrt uns aber auch, dass ähnliche Ursachen zwar zu ähnlichen Wirkungen führen können – aber nicht müssen! Es kann auch ein nichtlinearer Prozess sein, und dann kann alles ganz anders kommen.
Literatur:
Albertz, Jörg: Chaos für Anfänger - Einige Grundgedanken und Begriffe der Chaostheorie. – In: Evolution zwischen Chaos und Ordnung / Hg. J. Albertz. Schriftenreihe der Freien Akademie. Bd. 24. – Berlin, 2005. – S. 21–44.
Bialas, Volker: Newtons religiöse Begründung des mechanistischen Weltorganismus. In: Schriftenreihe Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik, Hg. Franz Pichler u. Gerhard Pohl, Bd. 4, Universität Linz, 2004, S. 17–27.
Briggs, John; Peat F. David: Die Entdeckung des Chaos – Eine Reise durch die Chaos-Theorie. 7. Aufl., Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2001, 330 S.
Cramer, Friedrich: Chaos und Ordnung – Die komplexe Struktur des Lebendigen. 3. Aufl., Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1989, 320 S.
Greschick, Stefan: Das Chaos und seine Ordnung – Eine Einführung in komplexe Systeme. 3. Aufl., Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2001, 118 S.
Hunger, Edgar: Von Demokrit bis Heisenberg. Quellen und Betrachtungen zur naturwissenschaftlichen Erkenntnis. 3 Teile, Friedrich Vieweg & Sohn, Braunschweig 1958.
Lichtenberg, Georg Christoph: Aphorismen. Hg. Kurt Batt. insel taschenbuch 165, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, 1977.
Mandelbrot, Benoit B.: Die fraktale Geometrie der Natur. Birkhäuser Verlag, Basel 1987. Original: The Fractal Geometry of Nature. W. H. Freemann & Co., San Francisco/New York 1982.
Peitgen, Heinz-Otto; Richter, Peter. H.: The Beauty of Fractals – Images of Complex Dynamical Systems. Springer-Verlag, Berlin/Heidelberg 1986.
Peitgen, Heinz-Otto; Jürgens, Hartmut; Saupe, Dieter: Bausteine des Chaos – Fraktale. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1998, 514 S.
Richter, Klaus; Rost, Jan-Michael: Komplexe Systeme. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt 2002, 128 S.
Autor: Jörg Albertz
Quelle: Erstveröffentlichung im Lexikon freien Denkens, Angelika Lenz Verlag 2007
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